Und der Heuwagen, der rollt...
von Peter Züllig
Strohballen auf dem Wagen, nicht Heu. Darauf sitzen zwei Repräsentanten der Politik, die seit Jahren unermüdlich verbales Stroh
dreschen. Auch dann, wenn sie nicht auf diesem Wagen sitzen. Aber vor Wahlen setzen sie sich gerne hinter das hohe Ross und tun so, als wären sie Bauern. Es sind aber „feine Leute“, Politiker,
die so gerne Strippen ziehen. Unternehmer, Millionäre, die in Villen wohnen, ihre Hände höchstens in der Politik schmutzig machen und es mit der Wahrheit nicht allzu ernst nehmen. Wichtig ist,
„dass der Wagen rollt“, nicht über „Berge, Wiesen und Matten“, aber bekränzt mit „leuchtendem Ährengold». Sie ruhen nicht «im Schatten, denn der Wagen, der
rollt».
Jetzt bloche(r)n sie also durch die Arena. Bejubelt von Getreuen. In einer Show, bunt und schrill, dem Wahlzirkus der Amerikaner
abgeguckt. Deplatziert, unehrlich, verlogen wirkt fast alles, von der Auffahrt der Machthaber, über die Sägemehlringe für die „stakten Mannen“, den
zwei grossen Schweizerfahnen, und die Alphütte – die vorgibt, der „Alpöhi“ sei hier zu Hause – aber vorwiegend smarte Parolen-Drescher auftreten. Grundton: „Schweizer wählen SVP“. (Implizit
heisst das: Alle anderen sind eben keine Schweizer).
„Zeitgeistig, wunderbar!“, hat der Parteipräsident ins Mikrofon gehaucht. So ganz wohl war ihm offensichtlich nicht dabei. Auch Frauen und «junges Volk im Reigen, tanzen um die» lauten Parolen herum. «Wirbelnde Blätter im (künstlichen) Winde, es jauchzt und lacht und tollt». Es ist kein Hüttenfest – vielmehr der Wahlauftakt einer Partei, die sich so selbst inszeniert. In einer – bis in die Reden hinein – künstlichen, weltfremden Welt. «Ich bliebe so gerne bei» einer Schweiz der Wirklichkeit, «aber der Wagen, der rollt.“ (269)
Freundlichkeit ist eine Zier...
von Peter Züllig
«…weiter kommt man ohne ihr." So die fragwürdige Erkenntnis eines geläufigen Sprichworts. Sie beruht wohl auf den zweifelhaften Erfahrungen im Konkurrenzkampf des Lebens. Freundlichkeit schafft Raum, Vertrauen, Wohlsein, verbannt hingegen Enge, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit. Ein bewährtes «Geschäftsmodell» im täglichen Umgang mit Menschen, würde man glauben. Ist es die zunehmende Automatisierung (Automaten müssen nicht höflich, nur korrekt sein), welche immer mehr Freundlichkeit aus dem Alltag vertreibt? Besonders auffällig ist dies im Detailhandel. Die Unfreundlichkeit, ja Unhöflichkeit in Geschäften, im «Laden», nimmt zu, Kaufen wird immer häufiger zur Qual. Eine Erfahrung, die mich dazu gebracht hat, eine «Streichliste einzuführen, nicht zu verwechseln mit einer «Streichelliste» (was in etwa das Gegenteil wäre). Wer auf dieser – meiner ganz persönlichen – Liste landet, der hat mich als Kunde verloren. Nein, König – eine veraltete Vorstellung – will ich nicht sein. Aber auch nicht von desinteressierten, mürrischen, brummigen, unhöflichen Personen bedient werden. Kaufen und Verkaufen ist ein «Handelsgeschäft». Auch da gibt es eine professionelle Freundlichkeit. Sie steht weit über jedem Automaten, ist eine Zier und straft das Sprichwort Lüge: «weiter kommt man nämlich mit ihr!» (268)
Bonus, Boni...
von Peter Züllig
«Bonier, bonierter, am boniertsten…» Die sprachliche Steigerung ist ungewöhnlich, vielleicht auch nicht ganz korrekt. Setzt man sie aber in Zahlen um, kommen Dimensionen zum Vorschein, die schlicht und einfach die sonst sturen Regeln der Wirtschaft (oder des Kapitalismus) ausser Kraft setzen. Gibt es dafür doch wenig oder gar keine gesetzlichen Regelungen. «Das Schweizerische Obligationenrecht definiert die Begriffe «Bonus» und «Prämie» nicht.» Punkt. Damit hat sich die «Bonus-Kultur» zur wildwüchsigen «Unkultur» entwickelt, zur willkürlichen Selbstbedienung des oberen und obersten Kaders in vielen Unternehmen. Ursprünglich als das gedacht, was es sprachlich auch ist: eine Belohnung. Wofür? Für eine besondere Leistung, für das Erreichen eines hochgesteckten Ziels oder eines grösseren Gewinns. Es gibt Kriterien und Grundlagen (wenn auch mit einer grossen Ermessensbreite), die den (nach oben) purzelnden Boni einen Sinn und Halt geben. Doch da greift das umfangreiche Regelwerk über Rechte und Verpflichtungen (in der Schweiz «Obligationenrecht» genannt) zu kurz. Vieles, fast alles, ist dem frei interpretierbaren Rechtssinn überlassen. Und beim verankerten Rechtssinn steht es nicht zum Guten. Ich zitiere jetzt nicht Banken, Fluggesellschaften und andere Schweizer Pleiten. Doch, wenn der oberste Verantwortlich für die desolate Bahnsituation in Deutschland (nebst dem Lohn) 1,26 Millionen Euro Boni erhält, ist nicht nur der Bahnverkehr gestört, sondern - für alle Bahnkunden sicht- und nachvollziehbar - auch jegliches Rechtsempfinden. Da geht es nicht nur um Verspätungen, vielmehr um einen Kollaps des Begriffs Bonus gleich Belohnung. (267)
Die ich rief, die Geister
von Peter Züllig
Da hat sich Goethe geirrt. Ich habe sie nicht gerufen. Sie sind mir zugeflogen. Ausgesandt als Geschäftsmodelle im Zeitalter des Computers. «Apps» nennt man sie. Es sind die neuen Geister, die die Welt – zumindest meinen Computer und mein Smartphone – steuern möchten. «Walle! Walle! Manche Strecke, dass, zum Zwecke, Wasser fliesse und mit reichem, vollem Schwalle zu dem Bade sich ergiesse». So einfach ist es längst nicht mehr. Das Wasser hat sich in Bits und Bytes gewandelt und baden kann man darin auch nicht mehr. Nur der «volle Schwall» ist geblieben: «Immer neue Güsse, bringt er schnell herein. Ach, und hundert Flüsse stürzen auf mich ein». War es bei Goethe (vor gut 200 Jahren) noch der Zauberlehrling, der die Geister gerufen und das ominöse Wort zum Abbruch der Handlung vergessen hat, so sind es heute Verkaufsstrategen, welche die Geister aussenden, den Ausstieg gut tarnen, und sie laufen lassen, dass: «Nass und nässer wird's im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! hör mich rufen.» Doch ein «Altmeister», der die Zauberei stoppen und Hilfe bringen könnte, gib es nicht mehrt. Er wurde längst «ausgelagert» und durch Programme ersetzt, die etwa schriftlich festhalten: «Einen Monat gratis und dann den Betrag von 11.50 CHF pro Monat.» Verzweifelt erinnere ich meinen Computer an Goethes Worte (zurzeit als es noch lange keine Computer gab): «Herr, die Not ist gross! Die ich (nicht) rief, die Geister, werd ich nun nicht los.» (266)
Weisse und schwarze Schafe
von Peter Züllig
Es war ein «schwarzes Schaf» - sogar eine kleine Herde - , die mit uns in den Bus eingestiegen ist. Wir waren den ganzen Tag unterwegs – mit wenig Gepäck, gerade noch so schwer, dass wir sie (alters halber) knapp tragen können. Das Ein- und Aussteigen und das Platzieren des Koffers hingegen sind mühselig geworden, besonders wenn man – wie wir – nach der langen Reise müde nach Hause kommen. Das haben die «schwarzen Schafe» - unter ihnen ein dreizehn-, vierzehnjähriger «Bueb» - erkannt und sofort Hand angelegt. Die beiden kleinen Koffer waren schwups im Bus und die kleine Gruppe hat – fröhlich in einer fremden Sprache, nicht leise plaudernd – die Sitzplätze gewechselt und die nächstliegenden frei gemacht, als wäre Zuvorkommenheit und Höflichkeit eine allgemeine Schäfchentugend. Nur, diese Schafe waren leicht dunkel, gar nicht weiss, wie sie auf den Wahlplakaten, mit dem blütenweissen Schweizerkreuz immer wieder weggejagt werden. Schon an der ersten Haltestelle mussten wir aussteigen. Das «junge schwarze Schäfchen» war sofort wieder da und hat uns geholfen rechtzeitig aus dem Bus zu kommen. Es waren noch mehr Schafe im Bus, die Mehrheit weisse. Sie haben gerade «gegrast», stur vor sich hin oder ins Weite geguckt. Nichts, als sich selber wahrgenommen. In knapp drei Monaten sind Wahlen. Weisse und schwarze Schäfchen werden wieder da sein und grossflächig separiert. Da habe ich mich unglaublich geschämt, fremdgeschämt. (265)
"KI", das geheimnisvolle Wesen
von Peter Züllig
Ki, ki, ki… zwei Buchstaben bloss, unendlich oft wiederholt. „KI“, eine schlanke Dame, ein eleganter Herr oder gar ein „Es“? Jedenfalls ein geheimnisumwittertes Wesen, das analysiert, denkt und immer häufiger auch handelt, „schneller, als die Polizei erlaubt“, mit dem „Bleifuss“ auf dem Gaspedal und dem „Blinker“ zum Überholen im Dauereinsatz. Dabei benimmt sie (er, es) sich so als sei ein Nesthäkchen am Werk: devot, weltläufig und „dienstig. "Kann ich Ihnen helfen?“, „Was ist ihr Problem? “Was kann ich für Sie tun?“
Ihre (seine) Nähe zum Computer ist augenfällig, mehr noch: sie (er, es) ist dem Computer verpflichtet, geradezu hörig. Wenn ich ihn einschalte, ist „KI“ auch da, blitzschnell, ungerufen und lässt sich nicht mehr so rasch vertreiben. Verständnisvolle, ja liebe Worte nützen nichts, da braucht es schon eher Gewalt, bis sie, er es doch verschwindet. Da nützt auch das Türschild: „Will nicht gestört werden!“, nichts, gar nichts! Im Gegenteil: jetzt wird sie, er, es meist schrecklich neugierig, rasch sogar arrogant: „Was möchten Sie tun?“, „Formulieren sie ihr Problem mit andern Worten!“, „Nutzen sie meine Vorgaben!“. Wechsle ich das Programm, suche ich Hilfe auf anderen Computerwegen, tauchen sie (die KIs) in Scharen auf. Jede, jeder und jedes hat einen guten Rat: schriftlich, gesprochen, in Bildern und Videos. Wenn es nicht mehr weitergeht, ein letzter Hinweis: „Melden Sie sich beim Administrator (der ist immer männlich)“. Ratlos, verzweifelt und wütend tippe ich ein, rufe oder schreie ich „Scheisse!“. KI immer freundlich: „Tut mir leid, das kenne ich nicht!“
(264)
Alleingelassen
von Peter Züllig
Es sind knapp 50 Jahre her, da wurde der COOP, unser Quertierladen, geschlossen. Für immer. Unrentabel sei er – also auch unnötig, nach kaum hinterfragten wirtschaftlichen Prinzipen. Für meine Schwiegermutter (in spe), brach eine Welt zusammen. Ihre Welt. Sie war geh- und sehbehindert, sie schaffte es gerade noch die 100, 200 Meter bis zum Coop. Dort hat sie eingekauft, jahrelang, sich über Aktionen gefreut, verfolgt wie die Preise stiegen und vor allem in all den vielen Jahren Kontakte geknüpft, Nachbarn getroffen, für kurze Zeit die Einsamkeit des Alters vergessen. Meine Schwiegermutter ist längst gestorben. Das Problem ist geblieben, hat sich sogar erheblich vergrössert. Das Quartier ist gewachsen, um das Dreifache. Das durchschnittliche Alter ist gestiegen. Die letzten verbliebenen Geschäft haben dichtgemacht: der Metzger, der Beck, der Milchladen, jetzt auch die Post, das Restaurant… Wer nicht mehr fit ist, dem gibt die IV – bestenfalls - ein motorisiertes Gefährt. Papierkram, gute Wünsche und eine Adresse: Stiftung ProAlter. Dabei ist das Leben im Alter immer komplizierter geworden: Computer, Digitalisierung, Internet, Telefonterror, Computergenerierte Ratgeber und Hilfen, QR-Code, Formularkrieg nur online zu erledigen, Ärztemangel… Die fast täglich neu entwickelten Programme, Angebote und Werbung überfordern selbst jüngere Menschen. Jetzt, wo auch ich (und meine Freunde) alt geworden sind, begreife ich meine Schwiegermutter. Alleingelassen! (263)
Hosenträger
von Peter Züllig
Hosen, einst Kleidungsstück der Buben, heute so gut wie geschlechtsneutral. Das war nicht immer so. Um Hosen, kurz, halblang oder lang, spielten sich (einst) kleine, häusliche Familiendramen ab. Bei kurzen Hosen, wenn es kalt war, mussten Strümpfe getragen werden. Die brauchten Halt. Die Folge: ein «Gstältli», eng und unbequem, verhasst wie kein anderes Stückchen Stoff. «Knickerbocker» brachten Erlösung: «Kniesocken», das ganze Jahr, kein «Gstältli» mehr. Doch auch Hosen – ob kurz oder lang – brauchten Halt: Hosenträger! Auch das war den Buben ein Gräuel. Schliesslich tragen angehende Männer immer Gürtel, lederne, mit grosser Schnalle. Die Jugendverbände haben dies rasch erkannt und lieferten handfeste Ledergürtel mit auffälligem Koppelschloss: Markenzeichen von «Pfadi», Jungwacht oder sonst eine Jugendgruppe. Damit war der Kampf um haltende Hosen für Jahrzehnte vorbei. Solange, bis die Bäuche so gewachsen waren, dass die Hosen wieder zu rutschen begannen. Den Gurt enger und enger schnallen. Eines Tages nützt auch das nicht mehr. Ältere Herren greifen wieder zum einst so verachteten Hosenträger, jetzt modisch, bunt, knallig. Inzwischen sind aber Hosenträger zum Kennzeichen von «Bünzligkeit» geworden. Max Frisch in einem Brief an seinen Verleger: «Ein Kurpark voll Hosenträgerkleinbürger, eine Summe von Langeweile, die einen einfach erschlägt…» So stehe ich also heute – siebzig Jahre nach den abgeschafften Hosenträgern - vor der entscheidenden Imagefrage: «Bünzligkeit» ertragen oder plötzlich ohne Hosen dazustehen? Ein Entscheid ist noch nicht gefallen. (262)
Abgetreten
von Peter Züllig
Schon einige Male wurde er abgewählt und ist dann doch wieder gekommen. Wieder gewählt. Jetzt ist er abgetreten. Nicht abgewählt, aus dem Verkehr gezogen. Für immer. Zwar mit irdischer Kraft, doch nicht aus irdischem Kalkül. Die Endlichkeit hat es geschafft. Ein Machtmensch musste die Macht abgeben. Es gab kein Trick, sie zu behalten.
Die Medien überschlagen sich, ein paar Tage lang, vielleicht ein paar Monate, um das Werk eines Täters zu würdigen. Unterschiedlich, je nach politischer Gesinnung. Täter war er, weil er die Macht
hatte und diese für «seine» erdachte, erhoffte oder erträumte Welt skrupellos nutzte. «Er hat die Welt verändert, wenn auch nicht zum
Guten», schrieb ein Kommentator und ist damit zum Kern der "politischen Macht" vorgestossen. Die Welt
verändern, zum Guten, zum Schlechten, zum Bösen.
Silvio Berlusconi war nur einer von Ihnen, die gerade – dank ihrer politischen Macht – die Welt zu verändern suchen. «Nicht nur zum Guten». Wladimir Putin, Victor Orban, Alexandr Lukaschenko, Recep Tayyip Erdoğan, und natürlich die beiden politischen Gespenster, Jair Bolsonaro und Donald Trump… Sie alle (und noch einige mehr) vereint etwas, das anders geworden ist, in der Spitzenpolitik. Die offene Lüge, die offene Manipulation, die unverfrorenste Behauptung.
Es sind nicht da die Schlechten, und dort die Guten. Es ist vielmehr der Umgang mit der Macht, der nicht nur zu weltweiten Konflikten führt, zu einer belasteten Welt, und – was sich niemand vorstellen konnte und wollte – zum offenen Krieg (261)
Grüezi
von Peter Züllig
Typisch schweizerisch! Vertraut, aber «mega» bünzlig. Da ist «Hallo» – besonders das amerikanische «Həˈloʊ» (phonetische Schrift) - weit weltläufiger und chicer. Ganz allgemein tut man sich schwer mit den Grussformeln, sowohl im schriftlichen Verkehr als auch im persönlichen Umgang mit Mitmenschen. Soll man nun einer «sehr geehrter Frau» oder einem «sehr geehrten Herrn» schreiben, oder eine «liebe Frau» oder einen «lieben Herrn» ansprechen? Einen Bekannten mit «Salut» (französisch) oder «Ciao» (italienisch) begrüssen? Oder die Tageszeiten zu Hilfe nehmen: guten Tag, guten Morgen, guten Abend…? «Gute Nacht», wirkt schon leicht anzüglich, «guten Mittag» geht gar nicht. In Frankreich ist man etwas persönlicher. «Comment allez-vous?» oder «Ca va?», ist eine alltägliche Begrüssung, die – will man nicht unhöflich sein – eine Antwort verlangt. Aber bitte nur eine rituelle, etwa: «Ca va bien, merci!». Kein mentaler oder medizinischer Zustandsbericht.
Wie sehr sich Gruss und Begrüssung immer wieder verändern haben, zeigen die vielen Formeln und Rituale. Sie sind auch der Ausdruck von Vertraulichkeit, Achtung und Respekt. Handschütteln oder weit adretter «gros bisous», verbunden mit einer nächsten Unsicherheit: Zwei oder drei symbolische Küsschen auf die Wange? Begrüssungsrituale sind bei Jugendlichen schon fast eine Pflicht, um dazuzugehören. Am häufigsten ist es ein Abklatschen, begleitet von einem knappen «Hi!». Corona hat uns noch das Berühren mit den Ellbogen gebracht.
Ob all diesem rituellen Wirrwarr resignieren immer mehr Menschen beim Grüssen: Sie verzichten darauf, sooft es geht. Und grenzen sich so – bewusst oder unbewusst – von der Umgebung, von der Gesellschaft ab, in der sie leben. «Grüezi» ist vielleicht nicht mehr der richtige Ausdruck in einer multikulturellen Gesellschaft. Es könnte aber auch sein, dass es genau das sagt, was viele in einer immer anonymer werdenden Gesellschaft suchen: «willkommen zu Hause!» (260)
Grüezi
von Peter Züllig
Typisch schweizerisch! Vertraut, aber «mega» bünzlig. Da ist «Hallo» – besonders das amerikanische «Həˈloʊ» (phonetische Schrift) - weit weltläufiger und chicer. Ganz allgemein tut man sich schwer mit den Grussformeln, sowohl im schriftlichen Verkehr als auch im persönlichen Umgang mit Mitmenschen. Soll man nun einer «sehr geehrter Frau» oder einem «sehr geehrten Herrn» schreiben, oder eine «liebe Frau» oder einen «lieben Herrn» ansprechen? Einen Bekannten mit «Salut» (französisch) oder «Ciao» (italienisch) begrüssen? Oder die Tageszeiten zu Hilfe nehmen: guten Tag, guten Morgen, guten Abend…? «Gute Nacht», wirkt schon leicht anzüglich, «guten Mittag» geht gar nicht. In Frankreich ist man etwas persönlicher. «Comment allez-vous?» oder «Ca va?», ist eine alltägliche Begrüssung, die – will man nicht unhöflich sein – eine Antwort verlangt. Aber bitte nur eine rituelle, etwa: «Ca va bien, merci!». Kein mentaler oder medizinischer Zustandsbericht.
Wie sehr sich Gruss und Begrüssung immer wieder verändern haben, zeigen die vielen Formeln und Rituale. Sie sind auch der Ausdruck von Vertraulichkeit, Achtung und Respekt. Handschütteln oder weit adretter «gros bisous», verbunden mit einer nächsten Unsicherheit: Zwei oder drei symbolische Küsschen auf die Wange? Begrüssungsrituale sind bei Jugendlichen schon fast eine Pflicht, um dazuzugehören. Am häufigsten ist es ein Abklatschen, begleitet von einem knappen «Hi!». Corona hat uns noch das Berühren mit den Ellbogen gebracht.
Ob all diesem rituellen Wirrwarr resignieren immer mehr Menschen beim Grüssen: Sie verzichten darauf, sooft es geht. Und grenzen sich so – bewusst oder unbewusst – von der Umgebung, von der Gesellschaft ab, in der sie leben. «Grüezi» ist vielleicht nicht mehr der richtige Ausdruck in einer multikulturellen Gesellschaft. Es könnte aber auch sein, dass es genau das sagt, was viele in einer immer anonymer werdenden Gesellschaft suchen: «willkommen zu Hause!» (259)