Saigon - oder das Vergessen

06. März 2013

 

Saigon oder das Vergessen


Saigon ist eine fröhliche Stadt. Ihr jetziger Name, Ho-Chi-Minh-Stadt, will gar nicht recht zu ihr passen. Ich habe in der kurzen Zeit in Vietnam kaum je den neuen Stadtnamen gehört, es sei denn auf dem Flughafen. Unser Flugzeug landete nicht in Saigon, sondern in der Ho-Chi-Minh-Stadt.

Wir sind – fast wie in Hanoi – eingebrochen in Saigon, Entschuldigung in der Ho-Chi-Minh-Stadt; aus der Luft direkt in der Stadt gelandet, zwei Stunden nach Verlassen von Hanoi. Was dazwischen liegt, das ist auch Vietnam, das viel grössere Vietnam, auch das ursprünglichere, vielleicht sogar das echtere.

Ich habe gelesen, dass Dörfer („das Dorf“) bis heute die kulturelle, gesellschaftliche und politische Einheit des Landes sind, gleichsam die Merkgrösse der vietnamesischen Gesellschaft: „militärisch kann Vietnam nur dann besiegt werden, wenn jedes Dorf einzeln erobert wird.“ Das hat Ho-Chi-Minh gewusst.

Genau dieses „Dorf“ aber haben wir nicht gesehen. Hanoi ist eine Stadt – die Hauptstadt – mit vier Millionen Einwohnern, Saigon mit zehn Millionen. Im ganzen Land sind es 90 Millionen Menschen, davon leben – gemäss Statistik – 25 Prozent in urbanen Regionen, das wären gerade mal 22 Millionen Menschen. Der grosse Rest – 68 Millionen – lebt in Dörfern und kleineren Städten. Davon haben wir nichts gesehen. Vietnam ist für uns das Land der Städte.

Es ist mir nie ganz klar geworden, wie das Verhältnis der Süd- und Nordvietnamesen zueinander wirklich ist. Darüber hat man – zumindest gegenüber uns Ausländern – beharrlich geschwiegen. Der Nationalstolz – Vietnamese zu sein – überwiegt und deckt – zumindest nach aussen – alle gravierenden Unterschiede zu – Stadt, Land, reich, arm, mit und ohne Schulbildung, kapitalistisch-kommunistisch. Nie habe ich – im Gegensatz zu Kambodscha – auch nur leise kritische Töne gehört. Folge der Einparteisystems und den zu erwartenden Repressionen?

Nur in der – übrigens ausgezeichneten – Schrift: „Vietnam-Kambodscha-Laos verstehen“, resümiert ein ehemaliger Vietcong Offizier aus Südvietnam ernüchtert: Obwohl wir den Genossen aus dem Norden jahrelang die Kastanien aus dem Feuer geholt hatten, drängten sie uns nach dem Sieg kaltblütig aus allen Schlüsselpositionen in Südvietnam. Kann man so mit alten Mitkämpfern umspringen?“ Es scheint doch noch einiges zu schwelen im Verhältnis der einst getrennten Teile. Narben verheilen halt nicht so schnell, sie werden – sind sie gross genug – ins Grab mitgenommen oder gar auf die Nachkommen übertragen.

Eines scheint mir immer klarer zu werde: Der Kampf um „Freiheit“, den Vietnam immer wieder antreten musste und angetreten ist, hat weniger ideologische als wirtschaftlichen und weltpolitischen Hintergründe. Seit dem 16. Jahrhundert übte der Westen, damals noch durch Missionare, einen bestimmenden Einfluss auf das Land aus. Man beutete das Land aus, die Bevölkerung – vor allem auf dem Lande – wurde ärmer und ärmer. Marionetten-Kaiser und Marionetten-Regierungen lösten sich ab. Die Landbevölkerung verarmte immer mehr. 1945 (also kurz nach dem 2. Weltkrieg) starben schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen an Hunger.

Vor diesem Hintergrund ist die Machtergreifung Ho-Chi-Minhs (und seiner kommunistischen Ideen) im Jahr 1954 zu erklären. Vietnam wurde geteilt, entlang des 17. Breitengrades, einer Grenze, die nur auf dem Papier funktionieren kann. Was dann geschah ist so unglaublich (und schwer zu verstehen), wie alles, was Kriege anrichten können. Die verhassten Franzosen kehren nach Vietnam zurück, nach Südvietnam. Die Landreformen werden zurückgenommen. Die Korruption grassiert. Südvietnam versinkt im Chaos. Bis die Amerikaner zu Hilfe eilen, neun Jahre lang Krieg. 3,4 Millionen Tote, darunter 1,4 Millionen gefallene Soldaten und 2 Millionen Zivilisten.

Dies sind Bilder meiner Jugend. Das nackte, brennende Mädchen Kim Phuc, das von den Napalmbomben flüchtet, Fotos eines Massakers an 500 Zivilisten im Dorf My Lai, B-52-Bomber der US-Luftstreitkräfte mit ihren "Teppichbombardements", verstümmelte Nachgeborene, Opfer von Agent Orange…

Diese Bilder habe ich wiedergetroffen, in Saigon, im Kriegsmuseum. Der Vietnamkrieg ist museal geworden. Amerikanische Panzer und Flugzeuge sind vor dem Gebäude abgestellt, längst kriegsuntauglich, sie kommen mir aber vor, als bewachen sie einen schrecklichen Ort und mit ihm das Vergessen.

Auf einem Areal ausserhalb Saigon – in Cu Chi – wurden die Tunnels des Widerstandes zu „Histoical Monument“ erklärt, als Beispiel für die Art, wie der David Vietcong den Goliath USA besiegte. Ein Disney-Land, ein Disneyland des Schreckens.

Betreten schauen wir uns die übrigen Sehenswürdigkeiten der Stadt an. Irgendwie lastet der Krieg doch noch auf Vietnam, auf Saigon. Die Sieger – Nordvietnam – hat es (es ist noch gar nicht lange her) mit seinen Schwestern und Brüdern im Süden nicht besser gemacht, als alle Sieger mit den Besiegten. Die verhassten Franzosen, aber auch die aggressiven Amerikaner sind weg. Die Südvietnamesen erduldeten ein „Umerziehung-Programm“ mit neuen Schrecken und neuem Leid. Dann das Umdenken der Regierung: vor gut 10 Jahren wurde weitgehend auf kommunistische Ideologie verzichtet.

Jetzt kehren auch die Franzosen und Amerikaner zurück. Als Touristen, aber auch als Investoren, egal wie ideologisch die Regierung gefärbt ist.

Doch Saigon ist eine fröhliche Stadt. Ihre Fröhlichkeit konnte weder ausgebombt noch umerzogen werden. Die Menschen auf der Strasse zeigen diese Fröhlichkeit. Der Verkehr ist – nach unseren Begriffen – chotisch, aber auch er – so scheint mir – fröhlich. Die Strassenbeleuchtung und der Strassenschmuck zum Jahreswechsel – jedes Jahr eine phantasievolle Neuschöpfung – hat der Stadt etwas von dieser Fröhlichkeit zurückgegeben. Ich glaube zu spüren, was Menschen hier denken: im Norden leben nicht mehr unsere Feinde, es sind jetzt unsere Schwestern und Brüder. Doch sie sind 1000 Kilometer weit entfernt. Und dazwischen? Da liegt unser geliebtes Land, Vietnam.

Peter Züllig