(Fortsetzung)
Das neuste «schlechteste Buch» ist nicht so spannend wie das von damals, auch nicht so einfach zu verstehen und schon gar nicht so einfach zu deuten. Auch musste ich am Schluss nicht weinen (wie nach Winnetou 3); ich bin auch nicht mehr der kleine Bub von einst, inzwischen durchaus lese gewohnt und weit weniger wort- und buchstabengläubig. Es ist auch nicht mehr so einfach, Helden und Überhelden aufzubauen, reale und fiktionale Welten zu entwerfen und in Geheimnisse von allem und jedem einzudringen, damit sich das Lesen (immerhin eine zeitaufwändige Beschäftigung) lohnt. Und – hat sich es sich gelohnt, «Nogg» zu begleiten, dem Sucher nach Licht, der auch der Dunkelheit – dem gefallenen Engel – begegnet? «Nogg» zu begleiten durch Jahrhunderte, die sich nicht artig aneinanderreihen, sondern wild durcheinander wirbeln; durch Kulturen, die sich produzieren und verstecken, durch Sinnsprüche, Überlieferungen und Nonsens, von Chur über Jerusalem bis nach Amerika?
Vielleicht hätte ich das Buch trotzdem nicht gelesen und dann wohl erst noch schlechter verdaut, hätte nicht die Moderatorin der Sendung «Literaturclub» (SRF) mehrmals verzweifelt die Frage gestellt: «Um was geht es eigentlich in diesem Buch?» Eine brauchbare Antwort erhielt sie nicht, auch nicht von Linard Badrill (Geschichtenerzähler und Liedermacher), der den Roman «Lucifer» in die Sendung gebracht und vorgestellt hat. Deshalb nochmals die Frage: «Wem kann man dieses Buch ans Herz legen, welcher Leserin, welchem Leser?» Die Antwort: «Dieses Buch kann lesen, wer Lust hat Fünfviertelstunden beim Lesen irritiert zu werden, denn Irritation ist der Anfang des Lernens», so Badrill, «um dann beim dritten Mal des Lesens die Erleuchtung zu finden».
Ich gebe zu, die Erleuchtung habe ich nicht gefunden (das Buch auch nicht dreimal gelesen), aber doch Anstoss erhalten, um zu erkennen, vielleicht auch nur zu erahnen, wie Welt auch funktioniert. Zum Beispiel in Geheimbünden, Männergesellschaften, in einer schwer verständlich gewordenen technischen Welt, in den Blasen von Gleichgesinnten, von symbolgetränkter Verheissung und ferner Hoffnung. In den Traditionen und Deutungen von Welt. Kommt dazu, dass die Wandlung vom «tumben Tor» (vom «Nogg» zum «Ard», edlen Ritter amüsant, sogar spannend und vielleicht doch ein ganz klein wenig erhellend ist (bis auf die Aufzählungen, die oft jeder Dramaturgie entgleiten).
2021, Blanvalet, Penguin Random House, München, 3. Auflage (Erst-veröffentlichung 2020) Taschenbuch, 476 Seiten, ISBN 978-3-7341-1047-4
Vor zwei Jahren war ihr Debüt als Kriminalroman-Autorin, jetzt ist bereits ihr viertes Buch von der Reihe auf dem Markt. Das zweite Werk erschien noch im selben Jahr wie das erste, das vierte in
diesem Jahr ("Der Unbekannte", April 2022).
"Die Patientin" ist quasi die Fortsetzung von "Blind", ihren Erstling, den ich bereits hier besprochen
habe. Der "Zweitling" ist häufig (fast immer) eine grosse Heraus-forderung, für die Autorin, den Autor, aber auch für die Leser. Noch bevor man zu lesen beginnt, stellen sich Fragen: "Kann die
Spannung gehalten werden?" Oder: "Werden die Erwartungen, die der Vorgänge beim Lesen (bewusst oder un-bewusst) geschaffen hat, auch befriedigt. Kommt dazu eine fast schon programmierte
Unsicherheit des Autors nach dem ersten, offensichtlich geglückten Wurf. Hier weiterlesen
Scheherazade der Cliffhanger
Christine Brand
"Der Bruder" und
"Der Unbekannte"
Zwei Kriminalromane (Band 2 und 4 der Serie «Milla Nova recherchiert»
Verlag "blanvalet", Penguin Random House, München, 1. und 4. Auflage, 539 und 543 Seiten, Taschenbuch ISBN 978-3-7645-0745-9 und
978-3-7645-0770-1
Der Erzählstopp ist wie eine Peitsche – mitunter sogar eine schmerzliche, – mit der die Leserinnen und Leser durch eine Geschichte gejagt werden. Christina Brand kostet – in ihren bisher vier Bänden der Serie – dieses Stilmittel aus. So haben ihre letzten beiden Romane 83 und 78 (nur mit Nummern bezeichnete) Kapitel.
Ein zweites charakteristisches Stilmittel der Autorin, sind – fast so häufig angewandt wie die Cliffhanger – die Perspektivenwechsel. Das gleiche Geschehen wird – oft sogar ort- und zeitverschoben – aus der Sicht (und dem Erleben) der verschiedenen beteiligten Protagonisten erzählt. Allein schon dadurch wird – selbst auf mehr als 500 Seiten – dauernd Spannung erzeugt, ja garantiert.Eigentlich ist es etwas aus Mode gekommen, eine Erzählung im spannendsten Moment zu unterbrechen, um erst später fortzufahren. Dieses Stilmittel hat am Fernsehen und beim Radio Tradition. Da geht es darum, die Zuschauerinnen und Zuschauer, die Zuhörerinnen und Zuhörer (lang- und kurzfristig) bei der «Stange zu halten». In der Literatur wird mit dem Cliffhanger hauptsächlich Spannung erzeugt. Besonders wenn nahezu jedes Kapitel – es kann noch so kurz sein – mit einem Cliffhanger endet, die Auflösung aber rasch, schon zwei, drei Kapitel später, präsentiert wird. Kommt dazu, dass sich die Themen der kriminalistischen Spurensuche sehr nahe an Verbrechen orientieren, die es in der Realität (nicht irgendwo in der Ferne, im nächsten gesellschaftlichen Umfeld) gegeben hat.
Milieu nähe, wohl eine dominierende Eigenschaft ihrer Kriminalgeschichten. Dies geht so weit, dass die Fiktion gelegentlich kippt, in die Belehrung
oder Konstruktion. Alle und alles ist mit- und ineinander verhängt. Das sind peitschenden Momente, bei denen man ausrufen möchte: «Too much!» Und es, aller Spannung zum Trotz, etwas ruhiger,
sogar etwas emotional differenzierter hätte. Allein die Tatsache, dass gegen Schluss von «Der Unbekannte» oft (und sozusagen von allen) immer mal wieder geweint wird, schafft noch nicht jene
Stimmung und Atmosphäre, in der sich die Hektik der Handlung beruhigen kann. Dies wäre aber unbedingt nötig, um der gesellschaftlichen Nähe und dem Gefühl der Betroffenheit Nachhaltigkeit zu
geben.
Was mich nach der Lektüre aller vier Bände («Der Blinde», «Die Patientin», «Der Bruder», «Der Unbekannte») am meisten stört, ist die zunehmende Bändigung der Sprache, die sich oft in der Routine
verliert und nur noch selten Helvetismen zulässt. Manche Ausdrücke «verdeutscht» und sind in der Schweiz (wo der überwiegende Teil der Handlungen stattfinden), nicht beheimatet. Als Beispiel
wiederhole ich, was ich schon nach der ersten Geschichte (Der Blinde) angemerkt haben, die Formulierung: «die Tram». In der ganzen Schweiz fährt nur «das Tram», auch in Bern, und Zürich.
Man meint zu spüren, wie ein auf Kriminalgeschichten spezialisierter deutscher Verlag, seine Routine und seine Kenntnisse deutscher Leser-Erwartungen in die Geschichten einfliessen lässt. Geschichten, die sich (fast ausschliesslich) im geografischen Bereich von Bern-Zürich (100 Kilometer) studieren lassen. Einiges der anfänglichen Unbekümmertheit und Direktheit einer Journalistin, die ausschliesslich für Schweizer-Medien gearbeitet hat, geht verloren. Die «neudeutschen» Begriffe – ausgerichtet auf eine jüngere Leserschaft – nehmen zu. Das Schweizer-Milieu entfremdet sich. So manche Wortwahl und Wortspiele wirken auf- oder hineingesetzt. Die vier dicken «Taschenbücher», mit den zum Teil opulenten Fällen (auf mehr als 2'000 Seiten), sind kaum ein Format für eine Generation, die grossmehrheitlich mit dem Computer und Smartphone unterwegs ist. Da ist "Scheherazade" gefragt (die Erzählerin aus «Tausend und eine Nacht»), die dem König (der sie töten will) jede Nacht eine Geschichte erzählt, deren Handlung am nächsten Morgen unterbrochen wird, sodass der König auf das Ende der Geschichte so neugierig ist, dass er die Erzählerin am Leben lässt. Ob dies im Zeitalter der kurzatmigen
Informationsflut noch immer funktioniert? Jedenfalls prangt auf jedem Band eine rote Etikette: «Bestseller-Autorin» und die «Kriminalschinken» werden (fast schon in atemberaubendem Tempo) aufgelegt. Es muss beim Stil und Inhalt doch eben tüchtig «funzen» (EDV-Umgangssprache).
NB. Als Leser der alten Generation warte ich ungeduldig auf den nächsten, den fünften Band, der Ende April erscheinen
wird.
Peter Züllig
Romane, die ein historisches Ereignis oder eine Zeitepoche beleuchten, zählen nicht zu meinen «Lieblingslektüren». Vor allem dann nicht, wenn sie sich akribisch an Vorbilder, Fakten oder Bilder
orientieren. Da bleibt meist (zu) wenig Raum für eigene Kreativität in der Vorstellungswelt des Autors, der Autorin. Und ist auch ein (zu) enges Korsett für den Leser, die Leserin.
Was ist Beschreibung und Fantasie, der Romanstruktur geschuldet? Und was ist neu formuliertes Abbild einer Wirklichkeit? Ich liebe das Original, auch wenn es nicht mehr erhalten, nicht mehr zugänglich oder nur schlecht dokumentiert ist. In diesem Fall ist alles anders. Die Lebensgeschichte der Brüder Jules und Edmond de Concourt wurde – zumindest in der entscheidenden Phase – minutiös festgehalten, in einem Tagebuch, das die beiden fast symbiotisch lebenden, denkenden und handelnden Brüder hinterlassen haben, vorerst gedacht und geschrieben nicht für die Öffentlichkeit. (Später wurden dann Teile davon veröffentlicht). Für die Öffentlichkeit gedacht, war hingegen ein anderes Zeugnis, die (wahre) Geschichte der Magd Rose Malingre, erzählt von den Brüdern De Concourt, im Roman «Germinie Lacerteux», erschienen 1865. Literaturhistorisch noch heute interessant, weil das Buch – vor allem das Vorwort – gleichsam als Start zur Epoche des «Naturalismus» in Frankreich definiert wird.
Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer (*1963) hat – auf Grund dieser beiden authentischen Quellen - im Roman «Doppelleben» (2022) zwei GeschichtenDie Geschichte des frühen Todes von Jules de Concourt, der 1870 an den Folgen von Syphilis – nach langem Leiden – sterben musste. Daraus entstand etwas Neues, eine historisch belegte Geschichte in Form eines Sittengemäldes, das die Zeit des «Zweiten Kaiserreichs» (1852–1870) anhand von zwei «Leidensgeschichten» aufgreift. Individuelle Lebensgeschichten, dicht beieinander, in einer schichtmässig getrennten, im Alltag aber verbundenen Gemeinschaft, ohne dass davon (zu Lebzeiten der Protagonisten) Notiz genommen wurde.
Die Bedienende und die Bedienten lebten viele Jahre zusammen, gleichsam in einer gottgegebenen Ordnung, in der es nur eine Welt gab,die eigene. Erst der Tod machte das «Doppelleben» - inseiner ganzen Tragweite sichtbar. Da wird auch das nachgeschriebene, «nachgedichtete» Buch zum grossartigen Werk, das berührt und – ich kann es nicht anders sagen – «unter die Haut geht». Noch nie habe ich Leid und Tod in einem Buch so nahe – und doch soweit - entfernt – erlebt. Da drängt sich der Untergang des französischen Kaiserreichs – als Tod – und nicht als geschichtliches Ereignis – ins Bewusstsein. Seuche, Leben, Krieg, aber auch Kultur, Prunk und Macht sind nur seine Kleider.
Bild rechts: Die Brüder Goncourt: Edmond (links) (1822-1896) und Jules (rechts)
(1830-1870) (Foto: Wikipedia)
Alan Bennett
2008, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (deutsche Ausgabe), 115 Seiten, ISBN: 978-3-8031-1254-5, 7. Auflage, aus dem Englischen von Ingo Herzke. Original: 2007, Forelake Ltd.
Leicht, fröhlich, verführerisch, verschmitzt und verdammt hintergründig – ein kleines Juwel, ein Kleinod, eine Kostbarkeit. Nein, kein Edelstein, ein Buch, ein Büchlein, mit wenig über 100
Seiten. Da ist einmal die Idee: eine Monarchin, keine erfundene, Elisabeth II., begegnet dem Buch, der Literatur. Gleichsam auf Nebenwegen, auf einem fiktiven Gartenausflug, mit ihren Hunden in
die hintersten Winkel des Palastes. Zwar ein undenkbares, aber theoretisch doch mögliches Fremdgehen Ihrer Majestät.
Hier trifft sie das Buch, besser: die Bücher, das Lesen, die Leidenschaft für das Lesen, das Glück des Lesens.
Literatur kann vieles ins Lot, aber ebenso viel in Unordnung bringen, ja ins Chaos stürzen. Sogar das Leben einer Königin, ihr Denken, ihre Pflichten, ihr Handeln. Besonders den Alltag im königlichen Käfig der Rituale und Pflichten.
Es ist nicht nur die Idee, die grossartig ist. Es ist auch das sprachliche Gewand: schlicht elegant, witzig und geschliffen, leichtfüssig und doch bedeutend. Zwar eine Übersetzung aus dem Englischen, in einem Sprachfluss, der dem hochnoblen Ort, dem prunkvollen Gespenst einer Monarchie, zwar würdig, aber nicht identisch ist.«Man liest zum Vergnügen», sagte die Queen. «Lesen ist eine Bürgerpflicht.» Punkt, kein Ausrufzeichen, einfach Punkt, auf den Punkt gebracht.
Eine Erkenntnis ihrer Majestät: «Literatur hatte etwas Erhabenes. Büchern war es egal, wer sie las oder ob sie überhaupt gelesen wurden. Vor ihnen waren alle Leser gleich, auch sie selbst…Erst
jetzt begriff sie, was Worte bedeuten. Bücher buckelten nicht.« Eine Ehrerbietung, eine Hommage, an das Wort, an das Buch, an die Schreibenden, nicht eine Attitüde gegenüber einer
Königin.
Idee, Sprache, Inhalt: wichtige Kriterien, um ein Buch zu lesen und auch zu loben. Doch es fehlt noch etwas, das nicht so leicht zu fassen ist: der Spass.
Der Spass, ein Vergnügen, beim Lesen. Dies nicht nur bei amüsanten, lustigen Büchern, auch bei ernsten, aufwühlenden, ja selbst traurigen.«Die
Lesefähigkeit der Jugend,» als Vermächtnis für die Zukunft. Ein hübscher Gedanke, ein aktueller vor allem. Dass, so nebenbei, auch das Wissen um Literatur geprüft wird, kommt im Zeitalter der
Quiz-Euphorie nicht schlecht an. Wenn auch – das ist der Nachteil von Sprachbarrieren – nur ein kleiner Teil der zitierten Literaturjuwelen, zum Wissensschatz gehören. Da dringt das Buch schon
ziemlich stark in die «Eingeweide» der englischen Literatur ein. Abrufbar nur ein kleiner Teil. Zumindest bei mir. Doch auch das ist – unter der königlichen Schirmherrschaft – eine Entdeckung,
und
damit ein echtes Vergnügen.
Peter Züllig
Gelesen:
Thomas Hürlimann
"Der Rote Diamant"
Roman
2022, Fischer Verlag Frankfurt a.M.
317 Seiten, ISBN 978-3-10-397071-5
Was wird nicht alles herbeizitiert, um Thomas Hürlimanns neuesten Roman zu deuten: Thomas Bernard, Umberto Eco, Robert Musil, Hermann Hesse, Dan Brown, natürlich auch Figuren – Schüler und Lehrer - rund um Harry Potter, darunter natürlich auch Lord Voldemort. Ich hasse solche literarischen Abgrenzungen, Vergleiche und Zuordnungen. Literarisches Hochgebet, kaum hilfreicher als eine Religion, wie sie im Roman als stockkonservativer Katholizismus gegeisselt wird. Ich erinnere mich an meine eigene Internatszeit – zehn Jahre früher als der Autor – in einer anderen Schule, weit höher gelegen als Hürlimanns Stift «Maria zum Schnee».
Da war ich Zögling 155 – zwar auf jedem Kleidungsstück festgehalten – doch im Internatsleben (ausser in der Wäscherei) ohne jede Bedeutung. Anders in der «Erziehungsanstalt Maria zum Schnee», wo Zöglinge mit Nummern bezeichnet, eingeteilt und angesprochen werden. Dieses Beispiel zeigt, wie stark der Autor die Welt überspitzt darstellt, zuweilen karikiert und sogar veräppelt. Nicht nur das Internat, in der abgeschirmten «Steinstadt». Überall, wo sich der Ich-Erzähler, der getriebene Held, Arthur Goldau, aufhält, bewegt und in immer wieder neue Abenteuer stolpert. Das ist gut so, den der Roman lebt – bei aller Faktennähe – von der Überzeichnung der Figuren und Situationen, vom Trimmen der Umstände, Zeiten und Realitäten ins Surreale und Komische.
Man könnte immer und immer wieder lachen, sich mokieren, amüsieren, wenn der Kern der Erzählung nicht so bitter wäre. Die Darstellung einer in sich geschlossene Welt. Die wird, bei aller Kuriosität, immer bedrückender, immer auswegloser, von Traditionen, Ritualen, Symbolen erstickt. Der Roman löst sich von dem Schul- und Klosterleben, vom historischen Fundament (Untergang der Habsburger-Monarchie) und dem Zeitgeschehen.
Was da an Menschlichem auftaucht, wird seziert, entrückt ins Symbolische, ins Mysteriöse, ins Absurde. Vieles, vielleicht sogar alles, wird rasch und gründlich zum Symbol:
Die Schwarze Madonna in ihrem Festtagskleid; die stenzige junge Frau mit ihrer Zahnlücke (in der Arthur später seine Unschuld verliert); Mimi, «Arthis» Mutter, die mit ihren Stöckelschuhen
Spuren hinterlässt, wie die greise Kaiserin Zita mit ihrem Gehstock; «Herr Drossel», pfeifender Vogelmann, der als Bruder Pförtner die Klosterfestung bewacht; Bruder Frieder, früher Metzger,
abgehärtet im Krieg (Stalingrad), jetzt Herrscher im Internat; die Zöglinge: Viper, Primus Lenin, Ultimus Nebel, Clown Giovanni, der Kluge… Ein seltsamer Zoo von Menschen, die immer wieder auf-
und abtreten, zusammengehalten, ja zusammengefügt, durch die fliessende, klingende, präzise, die Fantasie anregende Sprache.
Sobald weder die gepflegte Sprache noch die Logik der Geschichte den «Zoo» bändigen und die vielen Stränge zusammenhalten können, wird zur Erinnerung gegriffen. Erinnerung an bereits Erzähltes
(im Buch, auch in weiten Werken von Hürlimann), an historische Personen und Ereignissen, an klassischem Bildungsgut, an Lehren und Heilslehren. Da werden Zeiten – weit auseinander liegend –
miteinander verbunden, da Winkel im «Gefängnis Steinstadt» mühsam erklettert, da wird geflüchtet bis in Fieberträume im Lazarett. Es ist der rote Diamant, verbunden mit der Madonna, der immer
stärker die Richtung vorgibt, den Plot bestimmt.
Der geheimnisvolle, der kostbare, wohl auch der Wunder wirkende Stein. Er schafft genügend Gelegenheiten, über den Sinn des Lebens, des menschlichen Strebens, über den Wert der Dinge, die
Vergänglichkeit und den Tod nachzudenken, beflügelt von Fragen und Erkenntnissen der Philosophen, wie sie an Bildungsstätten wie dem Kloster «Maria zum Schnee» gelehrt wurden, bis Bob Dylan – zur
Zeit, als Arthur Goldau im Internat war – mit «The Times They Are a-Changing» das Morbide weggefegt hat und der «rote Diamant» ausgezogen ist. Weg aus dem sakralen Ort, in die individuelle Welt
des Privaten hinaus.